Bei der Debatte über Entwicklungspolitik fehlt vor allem eines: Glaubwürdigkeit. Politische Akteure, die für Freihandelsabkommen zu Lasten des Globalen Südens gestimmt haben, zeigen sich tags darauf „traurig“ über hungernde Kinder. Abgeordnete, die zu deutschen Rüstungsexporten schweigen, äußern sich „betroffen“ über Konflikte und Kriege, die labile Staatlichkeit zunichte machen. Was fehlt, ist eine aufrichtige Debatte über die Gründe der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichentwicklung. Die historische koloniale Ausbeutung etwa oder die neokolonialen Handelsbeziehungen.
Wegweisende Initiativen in der Entwicklungspolitik
Immer neue Märkte für europäische Unternehmen erschließen und den Zugriff der europäischen Industrie auf Rohstoffe sichern. Mit dieser Zielsetzung verhandelt die EU-Kommission mit Ländern des Südens über Freihandelsabkommen. Von diesen Verträgen profitieren Konzerne in der EU. Auch die euphemistisch bezeichneten „Wirtschaftspartnerschaftsabkommen“ (EPAs) zwischen der EU und den AKP-Staaten folgen diesem Prinzip. Doch gerade die afrikanischen Staaten sind auf eigene Wertschöpfung und Industrialisierung dringend angewiesen. Selbst der Afrika-Beauftragte der Bundesregierung, Günter Nooke, kritisiert inzwischen die Vorgehensweise der EU.
Die real existierende Freihandelspolitik der Industriestaaten vertieft bestehende Ungleichheit. Sie steht damit in direktem Widerspruch zu einem der Hauptziele der neu verabschiedeten Sustainable Development Goals (SDGs): dem Kampf gegen die weltweite soziale Ungleichheit durch eine neue Partnerschaft zwischen Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländern. Dafür aber müsste das Prinzip der Konkurrenz dem der Solidarität und Komplementarität weichen. Das hieße: Statt der Verschärfung des Schutzes des geistigen Eigentums, sollte ein Transfer von Know-how und Technologie im Bereich der regenerativen Energien stattfinden. Dies würde die globale Energiewende durchsetzen und nachhaltiges Wachstum in den Ländern des Südens ermöglichen. Dieser Transfer und ebenso ein Kompensationsfonds für koloniale Ausbeutung und zur Eindämmung der negativen Auswirkungen durch den Klimawandel könnten bei den Vereinten Nationen angesiedelt werden. Auch die Durchsetzung des vom UN-Menschenrechtsrat 2014 initiierten Treaty-Prozesses zur Verantwortung global agierender Konzerne wäre ein wichtiger Schritt. Hier sollte die Bundesregierung ihren Boykott dieser wegweisenden Initiative beenden.
Industriestaaten gegen notwendige strukturelle Veränderungen
Die UN-Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung in Addis Abeba Mitte 2015 ist nicht nur gescheitert. Sie hat auch erneut gezeigt, dass die reichen Industriestaaten nicht ernsthaft bereit sind, die weltweite soziale Ungleichheit zu bekämpfen. Eine Initiative zur Mobilisierung von Steuereinnahmen zur Bekämpfung der Armut bleibt bei der von den Industriestaaten dominierten OECD, anstatt sie bei den Vereinten Nationen anzusiedeln. Damit wird diese Initiative keinen Beitrag zu Steuervermeidung und -betrug durch transnationale Konzerne leisten. Die wichtige Forderung nach einer Finanztransaktionssteuer wurde gleich ganz aus dem Abschlussdokument gestrichen.
Dabei sehen wir uns schon jetzt der Situation gegenüber, dass ein Prozent der Weltbevölkerung ebenso viel besitzt wie die „übrigen“ 99 Prozent. Das SDG 10 (Reduced inequalities) will ja gerade die Lücke zwischen Arm und Reich schließen. Steuergerechtigkeit kann hier Abhilfe schaffen. Oxfam verweist zu Recht darauf, dass neun von zehn weltweit agierenden Konzernen mindestens eine Tochterfirma in Steueroasen haben. Durch die Steuervermeidung von Unternehmen gehen Entwicklungsländern jährlich mindestens 100 Milliarden US-Dollar an Steuereinnahmen verloren. Auch das ist ein Grund, weshalb – wie das European Network on Debt and Development (Eurodad) aufführt – weltweit etwa doppelt sowie Geld aus den Entwicklungsländern in die Industriestaaten fließt wie die armen Staaten an „Entwicklungshilfe“ erhalten.
Wie also die Menschen vor Ort befähigen, das Elend zu überwinden? Ein Mittel wären umfangreiche Cash-transfer-Programme, sogenannte direkte Zahlungen an die Menschen. Eine grobe Rechnung dazu: 13,6 Milliarden Euro werden Afghanistan von internationalen Geberländern bis zum Jahr 2020 zur Verfügung gestellt. Wenn wir auch nur einen Bruchteil davon auf die gut 30 Millionen Afghaninnen und Afghanen aufteilen würden, könnten wir Warlords und Drogenhändlern den Boden entziehen.
Was tun?
Wer glaubhaft Entwicklungspolitik betreibt, muss sich in erster Linie für neue, entwicklungsförderliche Handelsbeziehungen einsetzen. Alle Handelsabkommen der EU müssen einen fortlaufenden menschenrechtlichen Prüfmechanismus enthalten, der die sozialen Auswirkungen des Abkommens – etwa auf die Ernährungs- und Gesundheitssituation in den Partnerländern – untersucht und gegebenenfalls Anpassungen ermöglicht. Direktinvestitionen und transnationale Konzerne müssen strengen Regeln und Kontrollen unterworfen werden. Die Einhaltung sozialer und ökologischer Standards muss gewährleistet sein. Wir setzen uns für verbindliche Regeln für multinationale Unternehmen ein. Betroffene aus den Ländern des Südens sollen gegen Konzerne auch an deren Heimatstandorten klagen können.
Ich plädiere dafür, dass wir die aktuelle Rohstoffpolitik überwinden, weil sie Kriege und Bürgerkriege fördert und vom Geist des Neokolonialismus getragen ist. Die Rohstoffe in den Ländern des Südens gehören nicht uns. Auch deshalb sind die Industrieländer gefordert, ihren Ressourcenverbrauch und CO2-Ausstoß massiv zu reduzieren, statt Kompensationsmodelle wie etwa Projekte des Clean Development Mechanism (CDM) im Süden zu oktroyieren.
Kooperation statt Aufrüstung
Und ganz entscheidend: Entwicklungspolitik muss Teil einer aktiven Friedenspolitik sein. Wo Gewalt herrscht, wird Entwicklung behindert. Wo Armut und Ungerechtigkeit herrschen, wird der Boden für Gewaltkonflikte bereitet. Die Einbindung von Entwicklungszusammenarbeit und humanitärer Hilfe in eine Aufstandsbekämpfungsstrategie, wie etwa in Afghanistan, verhindert Entwicklung. Sie widerspricht dem Gebot der Neutralität und gefährdet sowohl die Bevölkerung als auch internationale Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Entwicklungs- und Hilfsorganisationen. Gut 15 Jahre „Krieg gegen den Terrorismus“ haben auch auf diesem Gebiet eine verheerende Bilanz hinterlassen: Über 60 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht. Das ist ein neuer Höchststand und trägt zur Armut und Verelendung ganzer Regionen bei. Dies geschieht über direkte Militärinterventionen und auch über Rüstungsexporte, bei denen Deutschland einen bedenklichen Rekord nach dem anderen aufstellt.
Statt imperiale Kriege und Aufrüstung – so fordert die NATO von ihren Mitgliedsstaaten zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Rüstung aufzuwenden – müssen wir zu einer Politik der Kooperation in Überlebensfragen des Planeten, dem Klimaschutz, der Armutsbekämpfung sowie der nachhaltigen ländlichen Entwicklung kommen. Wohlfeile Appelle und Betroffenheitsbekunden helfen kaum.