Mit der bevorstehenden UN-Klimakonferenz 2025 in Belém (COP30) rückt eine neue Initiative in den Fokus: die Globale Ethische Bestandsaufnahme (Global Ethical Stocktake, GES). Doch was bedeutet es eigentlich, Ethik in die Klimapolitik einzubringen? In diesem Interview sprechen wir mit Dr. Niklas Wagner (IDOS), Experte für Klimasoziologie, darüber, wie diese neue Initiative Gerechtigkeit, Inklusion und gemeinsame moralische Verantwortung ins Zentrum globaler Klimaentscheidungen rücken möchte – und warum gerade dieser Moment ein Wendepunkt sein könnte.
Das Pariser Abkommen verfügt bereits über eine Globale Bestandsaufnahme, um zu messen, wie die Länder bei ihren Klimazielen vorankommen. Warum braucht es eine separate „Ethische Bestandsaufnahme“ – und warum gerade jetzt?

Die Globale Bestandsaufnahme (Global Stocktake, GST) ist der zentrale Mechanismus des Pariser Abkommens, um den kollektiven Fortschritt zu bewerten. Sie beruht auf den Prinzipien der Gerechtigkeit und der bestverfügbaren Wissenschaft – doch beide werden von den Staaten unterschiedlich interpretiert, und der Prozess bleibt stark technokratisch geprägt. Unser Problem ist heute nicht, dass wir zu wenig über den Klimawandel wissen, sondern dass wir trotz all dieses Wissens zu wenig handeln. Die Globale Ethische Bestandsaufnahme (Global Ethical Stocktake, GES), die unter der brasilianischen COP30-Präsidentschaft initiiert wurde, soll die GST ergänzen, indem sie Ethik, Kunst und Kultur in die Debatte einbringt. Sie möchte andere Wissensformen mobilisieren – um Emotionen, moralische Reflexion und ein gemeinsames Gerechtigkeitsempfinden darüber zu wecken, wer Verantwortung trägt und wie wir handeln. So könnte die GES helfen, das Prinzip der Gerechtigkeit greifbarer und anwendbarer zu machen.
Könnten Sie ein Beispiel nennen, wie die GES versucht, unterschiedliche moralische Perspektiven oder oft überhörte Stimmen in die Klimaverhandlungen einzubeziehen?
Indem sie Künstler*innen, Philosoph*innen sowie Vertreter*innen indigener Völker und lokaler Gemeinschaften einbezieht, verspricht die GES, Klimadebatten vielfältiger und werteorientierter zu gestalten. Dennoch bleibt ihr Beteiligungsansatz bislang begrenzt. Regionale Treffen wie das jüngste in Genf wurden kurzfristig anberaumt und auf UN-akkreditierte Teilnehmende beschränkt – kaum die breit angelegte, von unten nach oben ausgerichtete Deliberation, die ursprünglich angestrebt wurde. Formate wie Bürgerversammlungen zeigen dagegen, wie zufällig ausgewählte Gruppen gemeinsam über komplexe Fragen beraten und dadurch Vielfalt und echte Teilhabe sichern können. Wenn die GES solche Prinzipien übernimmt, könnte sie mehr sein als ein Konsultationsprozess – nämlich ein Raum echter Ko-Kreation, in dem wissenschaftliches, moralisches und erfahrungsbasiertes Wissen zusammenkommt, um gerechte und lokal verankerte Antworten auf den Klimawandel zu entwickeln.
Könnte Ethik dort helfen, wo formale Abkommen bisher gescheitert sind oder noch scheitern?
Da Klimaverhandlungen im Kern immer auch Verhandlungen über Gerechtigkeit sind, kann die Einbindung ethischer Überlegungen dazu beitragen, Fragen von Fairness und Solidarität stärker ins Zentrum der globalen Klimapolitik zu rücken. Die GES steht außerhalb der formalen Strukturen der UNFCCC; ihre Bedeutung hängt daher davon ab, ob sie in diese politischen Prozesse zurückwirken kann, anstatt nur eine parallele Debatte zu bleiben. Das übergreifende Ziel der COP30-Präsidentschaft, stärkere Synergien zwischen den Rio-Konventionen zu fördern, eröffnet eine vielversprechende Möglichkeit, ethische Reflexion auch über das Klimaregime hinaus zu verankern. Allerdings wird dies nur gelingen, wenn moralische Überlegungen in konkrete und verbindlichere Prinzipien übersetzt werden, die die Verhandlungen tatsächlich beeinflussen und ethische Ambitionen mit institutioneller Praxis verbinden.

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