In den vergangenen Monaten hat die Europäische Union eine neue entwicklungspolitische Vision erarbeitet, wie die EU und ihre Mitgliedsstaaten in der Entwicklungspolitik zusammenarbeiten wollen. Der neue Europäische Konsens für Entwicklung soll von den EU-Institutionen – Kommission, Europäischer Auswärtiger Dienst, Rat und Parlament – in dieser Woche bei den European Development Days feierlich unterzeichnet werden.
Die neue Strategie ersetzt den Europäischen Konsens für Entwicklung, den die EU-Kommission, der Rat und das Europäische Parlament 2006 unterzeichnet hatten. Der Konsens von 2006 hatte zum ersten Mal gemeinsame politische Ziele und Handlungsprinzipien für die EU und ihre Mitgliedsstaaten definiert. Er hat die Sichtbarkeit der europäischen Entwicklungspolitik erhöht und stellte eine wichtige Grundlage für die Programmierung der EU-Finanzinstrumente für die Periode 2007 bis 2013 dar. Er hat die neuen EU-Mitgliedsstaaten, die nach 2004 beigetreten sind, beim Aufbau ihrer eigenen Ansätze und Systeme in der Entwicklungszusammenarbeit (EZ) unterstützt.
Für die Überarbeitung der Strategie war es höchste Zeit. Der Konsens von 2005 orientierte sich stark an den Millenniumentwicklungszielen (MDGs), die 2015 durch die Nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs) ersetzt wurden. Außerdem erfordern wachsende globale Krisen und internationale Verflechtungen, neue, auf den Privatsektor fokussierte EZ-Ansätze, die sogenannte ‚Flüchtlingskrise“, das Pariser Klimaabkommen, aber auch der bevorstehende Brexit die Neuausrichtung europäischer Entwicklungspolitik. Was können wir von der Strategie erwarten?
Zentraler Fokus: Agenda 2030 …
Der neue Konsens rückt nun die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung und die SDGs als zentrales Zielsystem der europäischen Entwicklungspolitik in den Mittelpunkt. Er diskutiert sehr ausführlich, wie die EU und ihre Mitgliedsstaaten die SDGs umsetzen wollen. Während der Konsens von 2006 aus zwei Teilen bestand (ein erster Teil für die EU insgesamt und ein zweiter Teil nur für die EU-Kommission), definiert der neue Konsens eine einheitliche Vision für die Entwicklungspolitik der EU und ihrer Mitgliedsstaaten.
Das europäische Bekenntnis zur Agenda 2030 im Konsens ist ein wichtiges Signal. Gleichzeitig bleibt der Konsens mit Blick auf die Umsetzung recht allgemein. Damit wird es schwierig, Fortschritte der EU in der entwicklungspolitischen Umsetzung der Agenda 2030 zu bewerten. Außerdem besteht die Gefahr, dass die Agenda damit primär als eine entwicklungspolitische Agenda gesehen wird. Die EU sollte daher parallel zur Entwicklungspolitik auch in der Umsetzung bei EU-internen Politiken ambitionierter voranschreiten.
Als weiteres positives Signal enthält der neue Konsens ein klares Bekenntnis, die Koordination der Entwicklungspolitik der EU und der Mitgliedsstaaten zu stärken. Die gemeinsame Programmierung (joint programming) soll weiter vorangetrieben werden. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten setzen sich außerdem das neue Ziel, mehr Entwicklungsvorhaben gemeinsam ‚umzusetzen‘, d.h. gemeinsam zu implementieren.
… aber viele offene Baustellen
Besonders wichtig ist die Schnittstelle zwischen Entwicklungs-, Sicherheits- und Migrationspolitik sowie humanitärer Hilfe. Durch die Flüchtlingskrise gerät EU-Entwicklungspolitik zunehmend unter Druck, kurzfristige Beiträge zur Migrations- und Flüchtlingspolitik zu leisten, statt mittel- bis langfristig nachhaltige Entwicklung zu fördern (Beispiel: EU Emergency Trust Fund für Afrika oder EU-Migrationspartnerschaften). Der neue Konsens steht klar unter dem Eindruck der Migrations- und Flüchtlingsdebatte. Er versäumt es jedoch, eine klare Vision zu entwickeln, welche Rolle Entwicklungspolitik innerhalb dieses Nexus künftig spielen soll. Das gilt auch mit Blick auf die Sicherheitspolitik. Der Konsens erklärt, was die Sicherheitspolitik von der Entwicklungspolitik erwartet, aber nicht andersherum was Entwicklungspolitik von der Sicherheitspolitik erwartet. Statt einer Weiterentwicklung von Politikkohärenz in diesen wichtigen Bereichen, scheint viel Energie auf die Frage verwendet zu werden, worin der Unterschied zwischen Politikkohärenz für Entwicklung und der in der Agenda 2030 geforderten Politikkohärenz für nachhaltige Entwicklung besteht.
Die ‚Agenda für den Wandel‘ (2012), die jüngste Entwicklungsstrategie der EU-Institutionen, hatte die Förderung von demokratischer Regierungsführung als eine von zwei Prioritäten für die EU-Entwicklungspolitik identifiziert. Im überarbeiteten Konsens ist demokratische Regierungsführung weniger prominent verankert. Ein Grund dafür ist sicherlich, dass die EU im Rahmen der Flüchtlingskrise vermehrt auf die Kooperation von autoritären Staaten angewiesen ist. Deutschland sollte sich dafür einsetzen, dass die EU-Institutionen in ihrer Kooperation hier weiterhin einen Schwerpunkt setzen.
Die Agenda für den Wandel hatte außerdem das Prinzip der ‚Differenzierung‘ eingeführt; d.h. höhere Mitteleinkommensländer (UMICs) sollten keine EZ-Gelder mehr erhalten. Der überarbeitete Konsens betont, dass die EU und Mitgliedsstaaten EZ-Gelder v.a. für die ärmsten Länder ausgeben wollen. Er benennt auch explizit das VN-Ziel für EZ-Mittel für die am wenigsten entwickelten Länder. Auf Drängen der Mitgliedsstaaten hin, hebt der Konsens gleichzeitig die Bedeutung der Kooperation mit Mitteleinkommensländern – auch in der Entwicklungszusammenarbeit – hervor. Für die Verhandlungen zum nächsten Mehrjährigen Finanzrahmen muss dieses Thema weiter diskutiert werden. Der Text des Konsenses ist hier nicht konkret genug und gibt keine klaren Handlungsempfehlungen.
Die Tatsache, dass die EU – trotz Brexit und anderen außen- und innenpolitischen Herausforderungen – den neuen Konsens erarbeitet hat, kann zunächst einmal als Erfolg bewertet werden. Durch die Erarbeitung einer gemeinsamen Strategie für die EU Mitgliedstaaten und EU-Institutionen hat der neue Konsens ein hohes Ambitionsniveau. Die Debatten während der Erarbeitung des Konsenses haben allerdings gezeigt, wie schwierig es weiterhin ist, divergierende Positionen der EU-Mitgliedsstaaten unter einen Hut zu bringen. In Zeiten, in denen EZ-Budgets (jenseits von Deutschland) eher abnehmen und in denen die EU durch den Brexit einen wichtigen entwicklungspolitischen Akteur verliert, wäre ein engeres Zusammenrücken der EU und der verbleibenden Mitgliedstaaten essentiell.