Keine Angst vor Komplexität: Nur wer über den Tellerrand blickt, kann globale Wirkungszusammenhänge verstehen

Mehr Verantwortung in Europa

Wenn die Gesellschaft für Deutsche Sprache das „Postfaktische“ zum Wort des Jahres wählt und der Spiegel „to underpoll – Brexit underpolled, Trump underpolled“ als Verb des Jahres ausruft, haben sich die Dreh- und Angelpunkte unserer Gesellschaft verschoben – und das nicht nur in Deutschland. Daher braucht es weiterhin einen klaren Blick nach vorne.

 

 

Komplexität ist das Wort der Stunde. Globale Wirtschaft, Politik und Handel beeinflussen nationale Politiken und bedingen Wechselwirkungen, deren Verstrickungen für Bürger und Entscheidungsträger nicht immer einfach nachzuvollziehen sind. Vielerorts wird dies als bedrohlich empfunden und führt zu populistischen und protektionistischen Neigungen. Menschen fühlen sich weltweit verunsichert und fordern konkrete Antworten auf die drängenden Fragen der Zeit. Für die Entwicklungszusammenarbeit bedeutet dies, sich den neuen Anforderungen zu stellen. Viele Prozesse sind scheinbar unvorhersehbar geworden – wie etwa das Brexit-Votum oder die Wahl von Donald Trump zum neuen US-Präsidenten. Um die Zukunft der Entwicklungszusammenarbeit zu gestalten, brauchen wir internationale politische Frühwarnsysteme. Wir müssen von Anfang an verstehen, wie sich globale Trends entwickeln und dadurch die Möglichkeit bekommen, zeitgemäß und zeitnah zu reagieren.

Rolle der politischen Stiftungen

Politische Stiftungen wie die Konrad-Adenauer-Stiftung, die über ein etabliertes internationales Netzwerk verfügen, eignen sich für diese Aufgabe in besonderer Weise. Sie haben enge und vertrauensvolle Beziehungen zu Entscheidungsträgern und Multiplikatoren in Politik, Verwaltung, Zivilgesellschaft und Medien vor Ort. Diese Experten kennen sich bestens aus in den Debatten und Diskussionen ihrer jeweiligen Länder, gestalten diese oftmals konstruktiv mit; und wir brauchen diese Expertise, um frühzeitig einordnen zu können, was in den jeweiligen Ländern gerade passiert und um zu verstehen, wohin Gesellschaften sich entwickeln. Denn wenn zum Beispiel große Teile der Experten in Lateinamerika davon ausgehen, dass in den nächsten Jahren die westlich-liberale Idee weiter Rückenwind erhalten wird, bieten sich hier für die europäische und deutsche Politik zusätzliche Handlungsmöglichkeiten.

Hieraus entstand die Idee als Konrad-Adenauer-Stiftung ein eigenes globales „Seismographen-Netzwerk“, das Adenauer Global Future Survey, zu entwickeln. An der ersten Befragungsrunde, die im Februar/März 2017 gemeinsam mit dem Fraunhofer Institut für System- und Innovationsforschung umgesetzt wurde, haben 554 renommierte Experten aus 104 Ländern teilgenommen.

Gefahrenpotentiale

Gefragt nach der größten Gefahr für die politische Stabilität in ihren Ländern in den nächsten fünf Jahren, nennen 63% aller Befragten den Populismus. 38% glauben, dass ein vergleichbares Risiko durch Flüchtlinge oder Migrationsbewegungen entstehen kann. Organisierte Kriminalität (49%), wirtschaftliche Entwicklung (59%) sowie internationaler Terrorismus (28%) haben dieser Umfrage zufolge weniger Gefahrenpotential auf die politische Stabilität der einzelnen Staaten als der Populismus.

Was den Wunsch nach der Schwerpunkt- und Prioritätensetzung in der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland in den nächsten fünf Jahren angeht, gibt es eine klare internationale Expertenmeinung: Rund 60% aller Experten sehen in der Verteidigung der Menschenrechte und des Rechtsstaats die vordringlichste Aufgabe der deutschen Außenpolitik; dem folgen mit 41% die Übernahme einer koordinierenden Rolle in internationalen Migrationsfragen und mit 40% eine nachhaltige Klima- und Energiepolitik.

Erwartungen an Deutschland

Aus diesen und den weiteren Ergebnissen der ersten Runde des Adenauer Global Future Survey lassen sich interessante Anregungen für die zukünftige Ausgestaltung deutschen Außenhandelns ablesen. Es gibt einen klaren Wunsch danach, die demokratischen Kräfte in unseren Partnerländern zu unterstützen und populistischen Tendenzen mit bildungspolitischen Maßnahmen zu begegnen. Wir müssen die Auseinandersetzung mit Stimmungsmachern führen und die Bürger in ihrer demokratischen Meinungsbildung fördern. Auch für die westlich-liberale Idee und die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit gibt es, so die Aussage der Experten im Rahmen der Umfrage, Spielräume, die es zu nutzen gilt. Gerade durch Kooperationen mit Organisationen der Zivilgesellschaft kann autoritär geführten Regimen vor Ort begegnet werden. In der Umfrage haben wir uns auch mit Erwartungen an deutsches Regierungshandeln befasst. Das klare Votum ist hier: die deutliche Mehrheit der internationalen Experten (58%) ist der Meinung, Deutschland solle mehr Verantwortung in Europa übernehmen.

Image: Gerhard Wahlers

Gerhard Wahlers, Stellv. Generalsekretär der Konrad-Adenauer-Stiftung und Leiter Hauptabteilung Europäische und Internationale Arbeit

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