Die globale Flüchtlingskrise hat der globalen Ungleichheit einen konkreten Ausdruck verliehen. Die starke Zunahme der Fluchtbewegung führt einer breiten Öffentlichkeit vor Augen, wie schlimm die Verhältnisse in vielen Teilen der Welt sind, wo die Menschen wegen fehlender Lebensperspektiven keinen anderen Ausweg mehr sehen, als ihre Heimat zu verlassen. Die Flüchtlingskrise zwingt uns, noch mehr darüber nachzudenken, wo wir bei unserer Entwicklungspolitik stehen und was wir in Zukunft anders, ja, noch besser machen müssen.
Entwicklungspolitik und die globale Flüchtlingskrise
2016 waren weltweit 65,3 Millionen Menschen auf der Flucht und damit 6,8 Millionen mehr, als noch vor einem Jahr. Besonders traurig macht mich, dass 51 % davon Kinder sind. Das ist ein neuer Negativ-Rekord und damit setzt sich leider die Entwicklung der letzten Jahre in dramatischer Weise fort. Wir müssen hier entwicklungspolitisch entschieden entgegensteuern.
Der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz hat schon 2006 in seinem Bestseller „Chancen der Globalisierung“ sein erstes Kapitel mit der Überschrift versehen „Eine andere Welt ist möglich“. Ich möchte hinzufügen: „Eine andere Welt ist nötig!“. Eine Welt ist nötig, in der jeder Mensch in seinem Heimatland die Chance hat, in Würde zu leben.
Die globale Flüchtlingskrise hat der globalen Ungleichheit einen konkreten Ausdruck verliehen. Die starke Zunahme der Fluchtbewegung führt einer breiten Öffentlichkeit vor Augen, wie schlimm die Verhältnisse in vielen Teilen der Welt sind, wo die Menschen wegen fehlender Lebensperspektiven keinen anderen Ausweg mehr sehen, als ihre Heimat zu verlassen. Die Flüchtlingskrise zwingt uns, noch mehr darüber nachzudenken, wo wir bei unserer Entwicklungspolitik stehen und was wir in Zukunft anders, ja, noch besser machen müssen.
Auf der einen Seite haben wir in den letzten 15 Jahren mit den Millennium Development Goals (MDGs), entwicklungspolitisch schon viel erreicht. Die Zahl der Menschen, die weltweit in absoluter Armut leben, konnte halbiert werden, ebenso die Zahl der Menschen, die ohne sauberes Trinkwasser auskommen müssen. Wir haben es geschafft, dass ebenso viele Mädchen wie Jungen die Grundschule besuchen. In vielen Ländern konnten wir dazu beitragen, die Lebensverhältnisse insgesamt deutlich zu verbessern.
Fragile Staaten als besondere Herausforderung für die zukünftige Entwicklungszusammenarbeit
Auf der anderen Seite haben wir eine Gruppe von Ländern, wo wir leider weniger vorangekommen sind. Das trifft vor allem für die Staaten zu, die durch immer wiederkehrende Gewalt und Instabilität gekennzeichnet sind, die fragilen Staaten. In fragilen Staaten gibt es meist keine funktionierenden Rechtssysteme, keine oder ungenügende soziale Sicherung. Die Möglichkeiten politischer Teilhabe der Bürger sind kaum vorhanden. 43% der Menschen weltweit, die mit weniger als 1,25 US-Dollar pro Tag auskommen müssen, leben in allein in den 50 Ländern, die von der OECD aktuell als fragile Staaten eingestuft sind. Bis 2030 könnte sich dieser Anteil sogar noch auf 62% erhöhen. Etwa 90 % aller Flüchtlinge weltweit fliehen aus Ländern, die von Konflikten und Gewalt geprägt sind.
Eine besonders große Herausforderung für die Umsetzung der Sustainable Development Goals (SDGs), sehe ich darum bei der Verbesserung der Verhältnisse in den fragilen Staaten. Wenn wir verhindern wollen, dass immer mehr Menschen gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen, muss Ziel 16 der SDGs, „Friedliche und inklusive Gesellschaften“ darum in Zukunft noch viel stärker in den Mittelpunkt unserer Entwicklungspolitik gerückt werden. Flucht stellt in jedem Einzelfall eine Tragödie dar und Fluchtbewegungen können sich destabilisierend auf ganze Länder und Regionen auswirken. Unser Ziel muss es sein, dass jeder Mensch in seiner Heimat eine würdige Lebensperspektive in einer sicheren Umgebung hat.
Menschen, die in Entwicklungsländern leben, die durch Fragilität geprägt sind, sind doppelt so häufig unterernährt wie in anderen Entwicklungsländern. Mehr als dreimal so viele Kinder gehen dort nicht zur Schule. In den meisten dieser Länder gibt es kaum funktionierende Gesundheitsversorgung. Die Entwicklungsfortschritte in diesen Ländern hinken gegenüber den Fortschritten in anderen Ländern in allen Bereichen stark hinterher. Wir steuern auf eine bedenkliche Zweiteilung der Welt zu, wo einige Entwicklungsländer den Sprung nach vorne schaffen, aber andere ganz zurück bleiben und in Armut, Chaos und Gewalt versinken. Wo Menschen nichts anderes übrig bleibt, als zu fliehen. Zu verhindern, dass dies so kommt, sehe ich darum als eine der wichtigsten Aufgaben unserer Entwicklungspolitik für die Zukunft.
Gewalt ist das größte Hindernis
Wir haben in den letzten Jahren immer deutlicher sehen müssen, dass Gewalt das größte Hindernis für Entwicklung ist. Armut kann Ursache von Gewalt sein. Der fehlende Zugang zu elementaren öffentlichen Gütern und Dienstleistungen, wie Nahrung, Wasser, Bildung und Gesundheitsversorgung ist oft der Grund für gewaltsam ausgetragene Verteilungskonflikte. Die Gefahr solcher Verteilungskonflikte um knappe Güter wird mit den Folgen des Klimawandels und des Bevölkerungswachstums in den nächsten Jahren noch stark zunehmen. Wo die Lebensgrundlagen durch zunehmende Dürren und Überschwemmungen vernichtet werden und Güter immer knapper werden, wächst das Risiko, dass Verteilungskonflikte gewaltsam ausgetragen werden. Wir müssen darum bei unserer zukünftigen Entwicklungspolitik die Menschen in diesen Ländern beim Umgang mit den Auswirkungen des Klimawandels stärken und dabei auch über neue Wege nachdenken. Wenn wir hier nicht deutlich schneller vorankommen, ist nach Schätzungen der Weltbank bis 2050 mit bis zu 200 Millionen Klimaflüchtlingen zu rechnen.
Wo Gewalt bereits ausgebrochen ist, kann Armut diese noch weiter verstärken. Gewalt vernichtet Lebensgrundlagen und verschlimmert in den meisten Fällen die Armut. Für Entwicklung braucht es ein Mindestmaß an Sicherheit und Stabilität. Die Herstellung von Sicherheit und Stabilität in fragilen Staaten ist aber langfristig nicht ohne Entwicklungszusammenarbeit möglich. In einigen Ländern mussten wir erleben, dass der Ausbruch neuer Gewalt die über Jahre mühsam erzielten Entwicklungsfortschritte in kürzester Zeit wieder zunichtemacht. Ziel unserer Entwicklungszusammenarbeit muss es darum sein, an diesen schwierigen Kreisläufen anzusetzen, es zu schaffen, die Kreisläufe zu durchbrechen und so zu Stabilität, Frieden und einer nachhaltigen Entwicklung in diesen Ländern beizutragen. Das ist alles andere als einfach. Es ist eine hochkomplexe Aufgabe, auf die wir uns aber in Zukunft sehr viel stärker einstellen müssen. Denn es ist genau der Punkt unserer Entwicklungspolitik, wo wir bislang vor den größten Herausforderungen stehen.
Ein Aspekt, dem wir uns in Zukunft noch intensiver zuwenden müssen, ist zu verhindern, dass in den fragilen Staaten „lost generations“ entstehen. Kinder und Jugendliche, die wegen Konflikten aus der Schulbildung rausgefallen sind und Opfer von Gewalt wurden, haben später nicht nur weniger berufliche Chancen, sondern sind auch leichter empfänglich für die Versprechungen von extremistischen Gruppen und Gewaltakteuren. Damit ist in diesen Staaten dann fehlende Entwicklung und Gewalt für die nächsten Jahre schon wieder im Voraus angelegt. Auch diesen Kreislauf müssen wir durchbrechen.
Was ist zu tun?
Wir werden meiner Auffassung nach in Zukunft die Maßnahmen der entwicklungspolitischen Konfliktprävention weiterentwickeln und ausbauen müssen. Noch stärker auf neue Modelle der Prävention setzen, so dass neue Konflikte gar nicht erst entstehen. Wo Gewalt aber bereits ausgebrochen oder wiederaufgeflammt ist, müssen wir noch aktiver bei der Konfliktbewältigung, der Konfliktnachsorge und der Friedenskonsolidierung werden. Die Verbesserung der wirtschaftlichen Situation der Menschen bleibt dabei elementar. Gleichzeitig haben aber immer mehr Konflikte auch ethnisch-religiöse Grundlagen. Wir müssen darum verstärkt darüber nachdenken, wie wir Dialogprogramme im ethnisch-religiösen Bereich zur Konfliktvermeidung in der Zukunft konzeptionell weiterentwickeln und ausbauen können.
Oft eng damit verbunden: Bei vielen Konflikten geht es um Streitigkeiten zwischen Regionen und Provinzen des Landes mit unterschiedlicher ethnisch-religiöser Ausprägung. Darum werden auch die Themen Dezentralisierung und der Aufbau föderaler Strukturen meiner Überzeugung nach bei unseren entwicklungspolitischen Friedensmaßnahmen in Zukunft immer wichtiger, wenn wir es schaffen wollen, Konflikte dauerhaft zu lösen und fragile Staaten langfristig zu stabilisieren.
Wir brauchen in Zukunft mehr Programme zur Reintegration von Binnenvertriebenen und Maßnahmen zur sozialen und wirtschaftlichen Integration von Ex-Kombattanten. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir im Sinne eines vernetzten Ansatzes nach einer – oft unumgänglichen – militärischen Beendigung von Gewalt noch gezielter und effizienter mit Stabilisierungsmaßnahmen ansetzen können. Wie wir noch schneller Einkommensmöglichkeiten schaffen und den Zugang zu Basisinfrastruktur für alle Bevölkerungsteile herstellen können, um damit neue Verteilungskonflikte schon im Keim zu vermeiden. Wichtig wird es hier auch sein, unsere Versöhnungsprogramme zwischen ehemaligen Konfliktparteien weiter ausbauen.
Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) konnte in den Ländern mit Konflikthintergrund in den letzten Jahren wertvolle Erfahrungen sammeln und hat seine Maßnahmen konsequent und in großem Umfang ausgebaut. Diese Entwicklung haben wir im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (AwZ) intensiv und dabei immer konstruktiv-kritisch begleitet. Es muss meiner Meinung nach in Zukunft eine deutlich verbesserte Abstimmung zwischen Entwicklungs- und Sicherheitspolitik geben, die in einen kohärenten außenpolitischen Ansatz eingebettet ist. Denn keine Seite kann ohne die andere die große Herausforderung lösen, die mit der Verbesserung der Lebensverhältnisse in den fragilen Staaten verbunden ist. Wir dürfen nicht zulassen, dass die ärmsten Länder im Chaos versinken. Die Menschen dort sind besonders schutzlos und darum auf unsere Hilfe besonders angewiesen.
Nur wenn es uns gelingt, die fragilen Staaten langfristig zu stabilisieren und damit Perspektiven für Menschen in ihrer Heimat zu schaffen, werden wir das globale Flüchtlingsproblem in den Griff bekommen.