Die deutsche Entwicklungspolitik hat mit der Sonderinitiative „EINEWELT ohne Hunger“ die Förderung des ländlichen Raumes sehr prominent platziert. Im Rahmen der diesjährigen G20-Präsidentschaft wird das Thema auch international intensiv beleuchtet.
Mit den Sustainable Development Goals (SDGs) hat sich die Weltgemeinschaft einen ambitionierten Zielrahmen gesetzt. Viele der Zielmarken sind entlang von Sektoren wie Ernährung, Gesundheit, Bildung, Wasser usw. definiert. Menschen leben aber nicht in Sektoren, sondern in konkreten Räumen. Politische Entscheidungen und gesellschaftliche Organisation finden wesentlich in Gebietskörperschaften statt. Auch die Natur „funktioniert“ in ökologischen Raumeinheiten. Sektoren sind letztlich nützliche Hilfskonstruktionen im Bestreben des Menschen, Komplexität zu reduzieren, die Welt zu verstehen und in ihr zu handeln. Aber bereits wenn es um die Frage geht, wie die SDGs am besten erreicht werden können, holt einen die Komplexität schnell wieder ein. Es wird sich lohnen, bei der SDG-Umsetzung auf diese beiden „räumlichen“ SDGs ein besonderes Augenmerk zu richten.
Vernachlässigung des ländlichen Raums
Wir leben im viel zitierten „Jahrhundert der Städte“. Tatsächlich ist der globale Verstädterungsprozess enorm. Die wachsende Bedeutung der Stadt darf jedoch weder Grund noch Vorwand sein, den ländlichen Raum zu vernachlässigen. Das dramatische Wachstum einzelner Mega-Cities in Entwicklungsländern darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Asien und Subsahara Afrika in sehr weiten Teilen noch sehr ländlich geprägte Kontinente sind. In Afrika wird die ländliche Bevölkerung sogar bis weit in die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts noch wachsen. Immer noch leben rund zwei Drittel der Bevölkerung Afrikas auf dem Land. Bis 2030 werden in Afrika ca. 440 Mio. jungen Menschen in den Arbeitsmarkt eintreten, das sind 30-40 Mio. junge Menschen jährlich – die Mehrheit von ihnen auf dem Land.
Der ländliche Raum muss nicht nur diesen Menschen Arbeit und Lebensperspektiven bieten, sondern auch den Kampf gegen Armut und Hunger weiterführen. Etwa drei Viertel aller Armen und Hungernden auf der Welt leben auf dem Land. Landwirtschaft muss im Mittelpunkt einer Strategie stehen, die dort Arbeit und Einkommen schafft und so Armut und Hunger überwinden hilft. Es gibt aber mindestens drei Gründe, eine Förderstrategie für den ländlichen Raum nicht zu eng auf landwirtschaftliche Produktivität auszurichten.
Erstens: Landwirtschaft benötigt zahlreiche Voraussetzungen, die nur durch umfassende ländliche Entwicklung geschaffen werden, z.B.: Bildungseinrichtungen, Gesundheitsstationen, Straßen zur Anbindung an Märkte, Stromversorgung zur Kühlung.
Zweitens: Eine Landwirtschaft, die sich dynamisch entwickelt, wird Arbeitsplätze freisetzen – selbst dann, wenn sie einen arbeitsintensiven Weg einschlägt. In vielen Ländern, gerade in Afrika, wird jedoch die formale Wirtschaft in der Stadt nicht schnell genug wachsen, um all diesen Menschen neue Perspektiven zu bieten.
Drittens: Selbst wenn irgendwann in fernerer Zukunft nur noch wenige Menschheit auf dem Land leben sollten und die Armut dort überwunden ist, wird der ländliche Raum nicht an Bedeutung einbüßen, im Gegenteil. Sämtliche natürlichen Ressourcen befinden sich auf dem Land und werden dort nachhaltig bewirtschaftet werden müssen. Dort wird nicht nur die Ernährung für eine wachsende Weltbevölkerung produziert werden müssen. Auch der Erhalt der Süßwasserressourcen und die Sicherstellung der Energieversorgung sind weitere große Zukunftsaufgaben. Erzeugung von Windkraft, Wasserkraft, Solarenergie: Nach Ende des fossilen Zeitalters wird dies alles im ländlichen Raum stattfinden müssen.
Strukturwandel
Notwendig ist eine nachhaltige ländliche Entwicklung – ein Strukturwandel im ländlichen Raum, der ökologischen und sozialen Zielen gerecht wird. Ein solcher Strukturwandel wird vor allem getragen durch Investitionsentscheidungen des privaten Sektors, vom Kleinproduzenten bis zum Handwerker und Finanzdienstleister. Aber diese Privatinvestitionen sind entscheidend abhängig von staatlichen Vorleistungen. Neben den öffentlichen Leistungen, die unmittelbar für die Entwicklung der Landwirtschaft wichtig sind, sind soziale Dienste und technische Infrastrukturleistungen erforderlich, die insgesamt zur Attraktivität ländlicher Räume beitragen.
Strukturpolitik
Bei der ländlichen Entwicklung sollte die Politik auf jeden Fall über sektorale Politikansätze hinausgehen. Der eine wichtige Aspekt ist eine regionale Strukturpolitik, in der alle Elemente zusammengeführt werden, die der wirtschaftlichen Entwicklung des ländlichen Raumes dienen. Ein Beispiel hierfür ist eine konsequente Förderung der Verbreitung von Innovation in der Agrar- und Ernährungswirtschaft.
Der andere wichtige Aspekt ist eine umfassende Raumordnung für den ländlichen Raum. Diese zielt darauf ab die einzelnen Nutzungsansprüche an den Raum auszugleichen. Durch die Ausweisung von Vorranggebieten etwa für Siedlungstätigkeit, landwirtschaftliche Nutzung und Biodiversitätsschutz, aber auch durch ein regionales Wassermanagement sollte ein wichtiger Rahmen für nachhaltige Entwicklung geschaffen werden.
Mehr politisches Bewußtsein
Das politische Bewusstsein für die Bedeutung des ländlichen Raumes muss wachsen. Dies gilt für die einzelnen Entwicklungsländer ebenso wie für die internationale Gemeinschaft und die Geber. Demokratisch legitimierte Dezentralisierung von Entscheidungsbefugnissen, Kompetenzen und Ressourcen kann helfen, dem ländlichen Raum und den dort lebenden Menschen eine politische Stimme zu geben.
Rückenwind brauchen die Länder aber von der internationalen Staatengemeinschaft. Von dort sollten klare Botschaften kommen, dass der ländliche Raum zählt. Wenn der ländliche Raum nicht zum Verlierer der Globalisierung werden soll, dann muss die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Kluft zwischen Stadt und Land überwunden werden.
Gesamtregie der Partner
Für Geber bieten sich zahlreiche Möglichkeiten eine nachhaltige ländliche Entwicklung zu unterstützen. Nachdem integrierte ländliche Entwicklungsprogramme früherer Jahrzehnte teilweise Opfer ihres übertriebenen Anspruchs, teilweise unberechtigterweise diskreditiert wurden, ist nun ein Neuanfang mit Augenmaß und Mut erforderlich. Einzelne sektorale Geberbeiträge, die die ländliche Entwicklung unterstützen (z.B. Landwirtschaftsförderung oder regionales Wasserressourcenmanagement), sind ein guter Anfang. Aber es ist mehr möglich. Es wäre sehr viel gewonnen, wenn es gelänge Partner dabei zu unterstützen, die oben beschriebenen integrierten Denk- und Handlungsweisen zu einem funktionsfähigen Teil des Regierungshandelns zu machen. Die Partner wären dann in Eigenverantwortung in der Lage, Gesamtbedarfe für den ländlichen Raum zu formulieren und die Gebergemeinschaft einzuladen, spezifische sektorale Unterstützungen zu leisten, die alle einer Gesamtlogik folgen und der Gesamtregie der Partner gehorchen.