Im Jahr 2021 wird die Weltgemeinschaft den Beginn der von den Vereinten Nationen ausgerufenen Dekade der Ozeanwissenschaften für nachhaltige Entwicklung markieren. Die Meereswissenschaften können die Erreichung der Ziele für nachhaltige Entwicklung unterstützen, indem sie ein besseres Verständnis der natürlichen und gesellschaftlichen Dynamiken liefern, die Küsten- und Meereskatastrophen auslösen und Entwicklungsprozesse erheblich stören können.
Für Indonesien, wie auch für den größten Teil der Region des Indischen Ozeans, war der historische Tsunami 2004 die schwerste Küstenkatastrophe der Neuzeit. Die Zahl der Opfer wird mit bis zu 350.000 angegeben, einschließlich der Vermissten. Damals gab es noch keine Systeme, welche die Gemeinden an den Küsten vor der Bedrohung hätten warnen können. Diese Katastrophe führte zu Fortschritten in der Wissenschaft und schließlich zur Entwicklung eines Tsunami-Frühwarnsystems. Historische Aufzeichnungen vergangener Tsunamis zeigen, dass Tsunamis in Perioden von Dutzenden bis Hunderten von Jahren wiederkehren können. Diese historischen Aufzeichnungen sind in den Boden- und Sandschichten vergraben, die uns durch eine Kohlenstoffdatierungsanalyse den Zeitraum der Ereignisse angeben können. Sie überzeugten Naturwissenschaftler*innen von zukünftigen Tsunami-Bedrohungen, einschließlich des großen Sunda Megathrust Tsunami-Ereignisses, das möglicherweise Küstengemeinden entlang der Südküste von Jawa bedrohen könnte.
Währenddessen greifen Gemeinschaften in Küstengebieten auf ihre kollektiven Erinnerungen und Glaubenssysteme zurück, um einen Sinn für den vergangenen Tsunami und potenzielle Tsunami-Bedrohungen zu finden. In vielen Traditionen der Küstengemeinden im Süden der Küsten Jawas gibt es noch immer Mythen von der Königin der Südsee, die in die javanische Kultur eingebettet sind und mit Tsunami-Ereignissen in Verbindung gebracht werden. Entsprechend ist es nicht überraschend, dass die Einführung neuer Technologien des Tsunami-Frühwarnsystems, das vor weniger als zwei Jahrzehnten entwickelt wurde, auf verschiedene Weise Ängste, Ambivalenzen und gesellschaftliche Auseinandersetzungen hervorruft. Zum Teil lässt sich dies durch die asymmetrische Wissensproduktion zwischen und unter Laien und Wissenschaftler*innen über die wahrgenommenen Bedrohungen der Meere erklären.
Nach dem Tsunami von 2004 sagte die Bundesregierung mindestens 45 Millionen Euro zu, um über das Projekt Deutsch-Indonesisches Tsunami-Warnsystem (GITEWS) zum Aufbau eines Tsunami-Warnsystems in Indonesien beizutragen. Der Druck hierzu ergab sich auch aus der Tatsache, dass deutsche Bürger*innen und Tourist*innen an den Küsten des Indischen Ozeans von der Katastrophe erheblich betroffen waren. Die Implementierung des GITEWS sollte 2005 beginnen. Innerhalb von drei Jahren sollte ein High-End-Warnsystem aufgebaut werden.
Die Forschung im Rahmen des aktuellen Projekts untersucht die komplexen Wechselwirkungen zwischen Akteur*innen in Indonesien, Deutschland sowie mehreren Nachbarländern Indonesiens bis hin zum UN-Gremium, das die Koordination des Warnsystems auf regionaler und globaler Ebene regelt. Im Mittelpunkt steht die Rolle unterschiedlicher Arten von wissenschaftlichem und alltäglichem Wissen bei der Entwicklung und Umsetzung des Tsunami-Frühwarnsystems. Die Forschung orientiert sich dabei an früheren Arbeiten über die Rolle von Wissen in verschiedenen zukunftsweisenden Projekten in Südostasien. Einer der Hauptakteure des indonesischen Tsunami-Frühwarnsystems erklärte in einem Interview: „…kami bukan masyarakat ilmu pengetahuan (wir sind keine Wissensgesellschaft)“. Durch Feldforschung in verschiedenen wissenschaftlich und technologisch relevanten Institutionen, die an der Entwicklung des indonesischen Tsunami-Warnsystems beteiligt sind, will die vorliegende Studie diese umstrittene Aussage hinterfragen und zugleich ein möglicherweise typisches und einzigartiges Gefüge einer Wissensgesellschaft im Kontext der indonesischen Wissenschaftssysteme untersuchen.
Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass Wissensgesellschaften nicht einfach als Ergebnis technologischer Entwicklung entstehen und uneinheitlich, aber dennoch bewusst von gesellschaftlichen Akteuren konstruiert sind. So betrachtet wird das Tsunami-Frühwarnsystem zu einem komplexen sozialen Artefakt und die sozio-politischer Prozesse rücken als Teil der Entwicklung eines solchen Frühwarnsystems in den Fokus. Die Studie versucht zu erklären, welches Wissen, welche Ideen und Ideologien im Rahmen des Aufbaus des indonesischen Tsunami-Frühwarnsystems, eines nicht indigenen Produkts einer postindustriellen Wissenschafts-gemeinschaft, produziert und mobilisiert wurden.
Methodisch kombiniert das Projekt ethnographische und qualitative Interviewmethoden unter den Agent*innen und Akteur*innen des Tsunami-Frühwarnsystems sowie partizipative Beobachtungen auf Gemeindeebene. Die gesammelten Daten reichen von Interviewprotokollen, Medienberichten, Fotomaterial bis hin zu Feldtagebüchern, Fokusgruppendiskussionen und Workshop-Notizen.
Vorläufige Ergebnisse einer ersten Feldforschungsphase im Januar und Februar 2020 deuten darauf hin, dass das Projekt von der dominierenden Rolle der „harten“ Naturwissenschaften, darunter Seismologie und Ingenieurwissenschaften, bei der Entwicklung eines Konzepts für ein durchgehendes Warnsystem abgewichen ist. Politische und kulturelle Verflechtungen waren im Rahmen des Projektentwurfs zunächst nicht vorgesehen. Irina Rafliana wird bis 2023 an diesem Forschungsprojekt arbeiten und dabei vom DAAD, DIE und vormals ZMT unterstützt werden. Betreut wird sie bei ihrer Arbeit von Prof. Dr. Anna-Katharina Hornidge.